"Mama, da war eine wichtige Person an der Tür" – 1. Wahlkreistag Hagen – Ennepe-Ruhr-Kreis I
Eindrücke vom Wahlkreistag
Bericht vom 1. Wahlkreistag Hagen – Ennepe-Ruhr-Kreis I
Am 29. April war es soweit: Nach den beiden Piloten im Jahr 2021 und den ersten zwei Veranstaltungen im Rahmen von Hallo Bundestag im März fand nun in der Stadthalle Hagen der erste Wahlkreistag außerhalb Berlins statt. An die 20 zufällig ausgewählte Personen aus dem Wahlkreis Hagen – Ennepe-Ruhr-Kreis I, darunter 6 Jugendliche, trafen sich in der Stadthalle Hagen. Manche reisten dafür mit dem Regionalexpress oder Auto aus den umliegenden Gemeinden Schwelm, Ennepetal, Gevelsberg und Breckerfeld an, andere konnten den Veranstaltungsort zu Fuß aus Hagen erreichen.
Schon beim Empfang im Panorama-Restaurant bemerkten manche Teilnehmende, dass die Zufallsauswahl für sie lustige Überraschungen bereithält: So kamen hier bspw. erstmals zwei Nachbarinnen ins Gespräch, die seit zwei Jahren im selben Haus wohnen, sich jedoch nur vom Namen auf dem Klingelschild her kannten. Zwei aus dem Basketballverein befreundete Jugendliche begrüßten sich ebenso erstaunt wie der Vater eines Jugendlichen seine Arbeitskollegin, die gemeinsam mit seinem Sohn ausgelost worden war.
Wie üblich starteten wir mit einer Runde, in der alle ihre Reaktionen auf den Einladungsbrief teilten. Es wurde deutlich, dass bei den Anwesenden die Wege zwischen Auslosung und Zusage zur Teilnahme sehr unterschiedlich verliefen. Nur wenige sagten sofort zu, während gleich mehrere von Skepsis berichteten: Sie vermuteten bspw. Werbung dahinter oder einen Fake. Der Unglaube konnte erst durch weitere Schritte wie einen Erinnerungsbrief (“Da dachte ich: ‘Die meinen das ernst!’”), das Aufsuchen (“Mama, da war eine wichtige Person an der Tür”), oder Internetrecherche (“Kompliment an eure Website!”) abgebaut werden.
Auch in Hagen waren wieder zwei Simultan-Dolmetscher:innen dabei, dieses Mal in Englisch und Rumänisch.
Gruppenarbeiten: Das Verhältnis zum Bundestag und wie dieses verbessert werden kann
In der ersten gelosten Gruppenarbeit ging es zunächst darum, sich kennenzulernen und sich dem Thema des Tages anzunähern, indem alle die Frage beantworteten: Wie ist mein Verhältnis zum Bundestag und zur Politik, die dort gemacht wird? Während in den Berliner Wahlkreisen die Gebäude selbst durch physische Nähe punkten konnten, so fand dies erwartungsgemäß hier kaum Erwähnung. Jedoch schilderten auch hier viele Teilnehmende ein Gefühl des Stolzes auf die Demokratie – gerade im internationalen Vergleich. Demgegenüber wurde in mehreren Gruppen im selben Atemzug auch bereits eine empfundene Distanz zu den Entscheidungen und Politker:innen in Berlin bemängelt. Andere Teilnehmende identifizierten hier sogar bereits Schwerpunktthemen, an denen sie später vertieft arbeiten wollten.
Nach dem Mittagessen im Restaurant fanden sich dann Gruppen zusammen, die dieses Verhältnis anhand von drei Themen verbessern wollten: 1. “Politische Kultur und Miteinander”, 2. “Beteiligung und Mitbestimmung”, 3. “Einbeziehung von und Investition in Jugendliche”. Aufgabe war es, sich gedanklich in die Zukunft zu versetzen und eine Vision zu entwickeln – also eine gemeinsame Vorstellung eines künftigen Idealzustands. Diese sollten dann am Nachmittag den Abgeordneten vorgestellt werden.
Themenwünsche für zukünftige Wahlkreistage
Nach Abschluss der Gruppenarbeit fanden sich alle im Plenum zusammen, um sich zunächst alleine, dann mit den Sitznachbar:innen über mögliche Themen für zukünftige Wahlkreistage auszutauschen. Es ist im Projekt so angelegt, dass wir das Thema für die nächste Phase, die im September beginnt, von Teilnehmenden aus der ersten Phase mitbestimmen lassen. Gewünschte Themen in Hagen waren: Fachkräftemangel, Soziale Sicherung, Bildungssystem, Wahlalter ab 16 und Umgang mit schwerer Kriminalität. Es fiel auf, dass die bei den Berliner Wahlkreistagen so präsenten Themen wie Wohnen, Verkehr und Klima gar nicht genannt wurden, wohingegen Themen, die die Sicherheit der Bevölkerung betreffen, stärker Einzug fanden. Dies war uns ein Anzeichen dafür, dass die im Projekt vertretenen Wahlkreise eine Vielfalt dessen ans Licht befördern, was die Menschen in Deutschland beschäftigt. Ein Grund mehr, die Wahlkreisebene als Verbindung zwischen Menschen vor Ort und Bundespolitik stärker in den Blick zu nehmen.
Diskussion der Ergebnisse mit Bundestagsabgeordneten
Um 15 Uhr folgte dann der gemeinsame Teil mit den Abgeordneten: Timo Schisanowski (SPD), der im Wahlkreis direkt gewählt ist, fand sich vor Ort ein, Janosch Dahmen (Bündnis 90/Die Grünen) wurde digital hinzugeschaltet und Katrin Helling-Plahr (FDP) wandte sich per Grußbotschaft an die Teilnehmenden, da sie aufgrund einer Parallelveranstaltung nicht live dabei sein konnte. Dafür war ein Büro-Mitarbeiter vor Ort, um ihr von den Ergebnissen der Veranstaltung zu berichten.
Für diesen Teil fanden sich alle im Foyer ein, in dem es genug Platz gab, einen Steh- und Sitzkreis zu bilden. Zunächst wurden beide Abgeordnete interviewt zur Frage, wie ihr Verhältnis zum Bundestag war, bevor sie in die Politik gingen. Sie hatten so Gelegenheit, den Teilnehmenden einen persönlichen Einblick in ihre Vergangenheit und die Motivation für ihre Arbeit zu geben. Anschließend präsentierten die Teilnehmenden ihre zuvor erarbeiteten Ergebnisse mithilfe der in der Gruppenarbeit entwickelten Visions-Plakate.
Vision “Politische Kultur”: Grundlegend für diese Vision war der Wunsch nach einem besseren gesellschaftlichen Miteinander, das von der Politik gefördert werden sollte. Langfristig müsse eine laufende Verständigung über Werte wie Respekt und Gleichberechtigung schon möglichst früh beginnen, beispielsweise in Kindergärten und Grundschulen.
Die Abgeordneten teilten diese Vision und die Bedeutung, die frühkindliche Erziehungsstätten hierbei spielen. Herr Dahmen bestärkte die Notwendigkeit dieser Forderung, indem er auf gegenläufige Tendenzen im internationalen Vergleich verwies, durch die der Ton derzeit eher rauer werde. Herr Schisanowski betonte, dass sie als Politiker:innen zudem in der Verantwortung stünden, diese Werte auch vorzuleben.
In der Visionsgruppe “Beteiligung und Mitbestimmung” wünschten sich die Teilnehmenden Formate für einen regelmäßigen Austausch zwischen Politik und Bevölkerung, inklusive Minderheiten und stiller Gruppen. Die Vorschläge gingen von Befragungen der Bevölkerung bzgl. ihrer Prioritäten, über die Vorstellung und Diskussion der Wahlprogramme unter Ausschluss der Presse bis hin zu Volksentscheiden auf Bundesebene.
Herr Schisanowski machte deutlich, dass der beidseitige Wunsch nach einem besseren Austausch vor der gemeinsamen Herausforderung stünde, wie dieser Kontakt zustande kommen solle. Beim Format des Volksentscheids komme es aber sehr auf das “wie” an: Es dürfe nicht aus Stimmungslagen heraus eingesetzt werden. Herr Dahmen sprach sich dagegen für Bürgerräte als vielversprechendes Austauschformat aus.
Ziel der Vision “Einbeziehung von und Investition in Jugendliche” war es, politische Prozesse für junge Menschen verständlicher zu gestalten, sodass Jugendliche Politik vermehrt als etwas Spannendes empfänden, an dem sie mitwirken können. Maßnahmen umfassten unter anderem das Wahlrecht ab 16, eine aktivere Präsenz der Politiker:innen in den sozialen Medien, und eine Stärkung der Kompetenzen des Bundes in der Gestaltung der Schulpolitik.
Beide Abgeordneten sprachen sich ebenfalls für eine Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre aus, so wie es bspw. auch jüngst auf EU-Ebene eingeführt worden ist. Die Bedeutsamkeit der sozialen Medien sei jedoch laut Herrn Dahmen in einer Hinsicht mit Vorsicht zu genießen: Influencer:innen verfügten zwar über eine große Reichweite. Doch könnten sie niemals die Bedeutung unabhängiger Medien ersetzen, auch weil sie viel anfälliger für Fake News seien. Anschließend berichteten beide, wie Bundestagsabgeordnete bereits jetzt in der Bildungspolitik Veränderungen anstoßen könnten: Über ihre Parteikontakte zu Abgeordneten aus den Ländern.
Insgesamt war der Austausch sehr anregend. Die Abgeordneten sprachen mehrmals die Einladung aus, sie in ihren Büros oder per E-Mail zu kontaktieren, um das Gespräch fortzusetzen. In der Abschlussrunde der Teilnehmenden wurde deutlich, dass die anfängliche Skepsis gewichen war: Sie zeigten sich dankbar für den vielfältigen Meinungsaustausch mit Menschen, die ganz andere Perspektiven mitbrachten, die vielen tollen Ideen, die erarbeitet wurden, und die Möglichkeit, etwas über Politik zu lernen. Auch der generationenübergreifende Austausch wurde mehrfach positiv hervorgehoben. Die Mehrheit äußerte den Wunsch, sich im Wahlkreisrat weiter zu engagieren.
Zum Ende der Veranstaltung war noch ein Journalist der Westfalenpost vor Ort, der den anwesenden Schisanowski, ein paar Teilnehmende und Teammitglieder interviewte. Hier ist der Link zum Artikel: https://www.wp.de/staedte/hagen/abgeordnete-in-hagen-mit-direktem-draht-zu-den-buergern-id238268437.html
Die Dokumentation fasst den Prozess und die Ergebnisse des Wahlkreistages vom 29. April 2023 zusammen. Sie steht hier zum Download bereit.