“Zuerst dachte ich, die sind doch bescheuert!”
Am Dienstagabend war es soweit. Nach über einem Jahr der Vorbereitungen startete Hallo Bundestag mit einer Auftaktveranstaltung in der Berliner Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung.
“Wir wollen das Projekt vorstellen, Einschätzungen dazu von Außenstehenden hören, ein wenig der Diskussionskultur erleben, die wir in Bürgerräten erleben und nicht zuletzt das Projekt heute Abend ein bisschen feiern”, gibt Juliane Baruck, eine der Projektleiterinnen, als Ausblick auf den Abend. Und Sylvia Hirsch, Senior Projektmanagerin für Demokratie, Globale Fragen, und bei der Robert Bosch Stiftung für das Projekt verantwortlich, betonte in ihrer offiziellen Begrüßgung: “Es geht in diesem Projekt darum, Beziehungen zu stärken, und auch heute abend werden wir das tun.”
Projektvorstellung
Inhaltlicher Ausgangspunkt für die Projektvorstellung war ein vierminütiger Film mit Zusammenschnitten aus Interviews mit Teilnehmenden der Wahlkreistag-Piloten aus dem Sommer 2021. In teils emotionalen Beiträgen berichteten Teilnehmer:innen, wie sie zunächst auf die Einladung zu einem Bürgerrat auf Wahlkreisebene gar nicht reagierten: “Warum schreiben die ausgerechnet mich an, den unpolitischsten Menschen hier im ganzen Kiez?”, fragte sich einer der Ausgelosten. Auch weil beim Aufsuchenden Losverfahren, das hier zur Anwendung kam, dann tatsächlich Menschen vor der Tür standen, um Teilnahmehürden zu überwinden, waren genau diese Menschen dabei und schilderten eindrücklich, dass es sich gelohnt hat.
Kernerkenntnis der Piloten war, dass das Format funktioniert. Wie anschließend Linus Strothmann, der andere Projektleiter, deutlich machte, “war aber klar, dass wir nur mit drei Piloten in zwei Berliner Wahlkreisen noch nicht den Beweis erbracht haben, dass das Format deutschlandweit funktioniert. Und genau dafür gibt es Hallo Bundestag!”
In dem Projekt werden Wahlkreistage sowohl in den beiden Berliner Pilot-Wahlkreisen als auch in vier weiteren auf Deutschland verteilten Wahlkreisen stattfinden werden. In drei Phasen mit jeweils eigenen thematischen Schwerpunkten, werden Erfahrungen gesammelt. Diese sollen nach jeder Phase ausgewertet werden und am Ende darin münden, dem Bundestag Vorschläge zu präsentieren, in welcher Form eine Institutionalisierung möglich ist. “Institutionaliserung klingt zunächst utopisch. Aber wenn wir uns klar machen, dass derzeit alle Abgeordneten die Möglichkeit haben, drei mal pro Jahr 50 Menschen für Bundestagsfahrten nach Berlin einzuladen, und hierfür die Kosten übernommen werden, dann können wir uns schon die Frage stellen, ob man nicht zumindest einen Teil dieser Ressourcen auch für ein echtes Austauschformat wie die Wahlkreistage aufwenden könnte”, schloss Linus Strothmann die Vorstellung des Projekts ab.
Drei Fragen an drei Expert:innen, der Blick von Außen
Um auch einen kritischen Blick auf das Projekt und seine Ziele zu werfen, waren gleich drei Expert:innen eingeladen. Eine besondere Ehre war es, dass Dr. Silke Albin, die in Ihrer Funktion als Leiterin der Abteilung Wissenschaft und Außenbeziehungen der Verwaltung des Deutschen Bundestages auch die derzeit in Vorbereitung stehenden nationalen Bürgerräte verantwortet, das Projekt kommentierte. Dabei verwies sie auf wichtige Unterschiede zwischen den Wahlkreistagen und den nationalen Bürgerräten. Während im Projekt Hallo Bundestag vor allem die Verbesserung der Beziehung zwischen Menschen vor Ort und den Abgeordneten im Zentrum steht und der gelungene Prozess wichtiger ist als die Ergebnisse, ist es bei den nationalen Bürgerräten essenziell, dass Fragestellung und Prozess inhaltliche Ergebnisse produzieren die im parlamentarischen Ablauf dann auch wirklich Berücksichtigung finden. Auch in der Tiefe der inhaltlichen Auseinandersetzungen sieht sie einen großen Unterschied, da die nationalen Bürgerräte über mehrere Wochenenden stattfinden werden.
Im zweiten Beitrag von Prof. Dr. Robert Vehrkamp ging es dann spezifisch um die Frage, inwiefern die Ebene der Wahlkreise sich überhaupt für ein Vorhaben der Beziehungsarbeit zwischen Politiker:innen und Menschen eignet. Vehrkamp, Senior Advisor bei der Bertelsmann Stiftung im Bereich Demokratie und Zusammenhalt sowie Mitglied der Wahlrechts-Kommission, betonte, dass das in unserem Wahlsystem angelegte Personalisierungsversprechen bisher “vorsichtig gesagt, noch Luft nach oben hat”. Durch Formate wie die Wahlkreistage könne die Verbindung von Menschen zum Wahlkreis gesteigert werden. Daher war er von Beginn an von der Idee von gelosten Formaten auf Wahlkreisebene “nicht nur begeistert, sondern regelrecht geflasht”, so Vehrkamp im Bühnengespräch mit Juliane Baruck.
Im dritten und letzen Beitrag kam schließlich Gisela Erler zu Wort. Als langjährige Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden Württemberg war sie maßgeblich daran beteiligt, losbasierte Beteiligungsformate in Deutschland voranzutreiben. Linus Strothmann fragte sie als erstes, was sie denn gedacht habe, als sie das Konzept für Hallo Bundestag das erste mal las. “Zuerst dachte ich, die sind doch bescheuert!” so die ehrliche Antwort. Denn für welche Menschen hat der Wahlkreis denn Relevanz und wie sollen Ergebnisse überhaupt den Eingang in Gesetzgebungsverfahren finden? Schließlich hat der oder die einzelne Abgeordnete ja gar keine Entscheidungsmacht. Nachdem sie sich aber intensiv mit dem Konzept beschäftigt hat, ist sie mittlerweile vom Potenzial überzeugt. Denn gerade weil die Verbindung zwischen einzelnen Menschen und dem Bundestag kein besonders enges ist, kann das Projekt hier neue Wege aufzeigen. Und schließlich sei es auch wichtig, deliberative Verfahren, in denen Diskussionen oft ganz anders ablaufen als in der großen Politik, genau dort bekannter zu machen. Die Idee, hierfür den Abgeordneten neben den “Butterfahrten nach Berlin” mit den Wahlkreistagen auch ein echtes Beteiligungswerkzeug zur Verfügung zu stellen, sei “genial”, so Erler.
Ein klein wenig Bürgerrat
Erlers Wunsch, dass mehr Menschen erleben, wie deliberative Verfahren ablaufen, war tatsächlich auch ein Anliegen der Auftaktveranstaltung.
Die Teilnehmenden losten anfangs ihre Tischnummer aus. An den acht Tischen fanden nun moderierte Kleingruppen-Diskussion statt. Dabei wurde zunächst auf der ganz persönlichen Ebene gesammelt, welches Verhältnis die Teilnehmenden zum Bundestag haben. Anschließend gab es die Möglichkeit, dem Team von Es geht LOS mitzugeben, wann das Projekt aus der Sicht der Teilnehmenden erfolgreich wäre. Erfolgreich ist für die Anwesenden das Projekt insbesondere dann, “wenn auch viele andere Menschen aus den teilnehmenden Wahlkreisen über das Projekt Bescheid wissen”, wenn es “differenzierte und wohlwollende Auseinandersetzung mit den Ergebnissen im Bundestag” gibt, “neue Menschen, unterrepräsentierte Gruppen und politikferne Menschen sich engagieren” sowie “wenn zwei der Bundestagsfahrten durch Wahlkreistage ersetzt würden”. Besonders häufig wurde genannt, dass die Skepsis von Abgeordneten gegenüber gelosten Formaten abzubauen, ein großer Erfolg für das Projekt wäre.
Bei einem kurzen Rundgang durch die acht Tische zeigte sich, dass das Losverfahren mal eine eher homogene Gruppe zusammengestellt hatte, mal eine sehr heterogene. Auf die Tische verteilt waren auch die anwesenden Mitglieder des Bundestages Thomas Heilmann (CDU), Canan Bayram (Bündnis 90/ Die Grünen), Timo Schisanowski (SPD) und Stefan Seidler (SSW) sowie Mitarbeiter:innen der Büros von Ralph Edelhäuser (CSU), Carsten Schneider (SPD) und Nina Stahr (Bündnis 90/ Die Grünen). Ebenfalls gut vertreten waren Teilnehmende der Pilotwahlkreistage in Berlin. An vielen Tischen gab es sehr angeregte Diskussionen, die dann nach dem Ende des offiziellen Teils der Veranstaltung beim Essen fortgeführt wurden.
Ein Dank an die Förderer, und Wahlkreis-Essen mit Tulpen zum Abschluss
Auch der Dank an diejenigen, die das Projekt durch ihre Unterstützung erst ermöglichen, kam nicht zu kurz. Vertreten durch die Vorstandsmitglieder Jonas Beuchert und Dr. Joachim Haas, bedankte sich das Team von Es geht LOS bei Finn Heinrich von den Open Society Foundations, Simon Lengemann von der Bundeszentrale für politische Bildung sowie bei Sylvia Hirsch von der Robert Bosch Stiftung. “Ihr habt unsere Vision mit Leben gefüllt!”, so Jonas Beuchert. Zum Dank wurde ein Es geht LOS-Würfel mit Hallo Bundestag Logo überreicht. “So könnt auch ihr ein bisschen Losverfahren in eure Institutionen bringen”, sagte Joachim Haas, der sich schließlich auch noch bei der ZEIT-Stiftung bedankte, deren Vorstandsvorsitzender Manuel Hartung kurzfristig absagen musste.
Schließlich startete der informelle Teil des Abends. Hierzu hatten die Gastgeber:innen ein besonderes Büfett ausgewählt. So wurden Gerichte und Getränke aus den sechs Wahlkreisen angeboten. Beim Essen wurde noch lange an den Tischen weiter diskutiert. Und damit auch zu Hause die Beziehungen gestärkt werden, konnten abschließend alle Teilnehmenden eine Tulpe mit nach Hause nehmen.
Das gesamte Team von Es geht LOS bedankt sich bei allen Beteiligten für einen wirklich schönen und gelungenen Abend!