"Das war mir fast zu harmonisch" – 1. Wahlkreistag Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost
Eindrücke vom Wahlkreistag
Bericht vom 1. Wahlkreistag Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost
Nur eine Woche nach dem ersten Wahlkreistag für Steglitz-Zehlendorf ging es in die zweite Runde: 30 zufällig ausgewählte Personen aus dem Wahlkreis Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost, davon 8 unter 18 Jahren, fanden sich im Bundestag zusammen.
In einem Raum im Paul-Löbe-Haus, in dem sonst der Ausschuss für Arbeit und Soziales tagt, wurden gleich bei der ersten Frage an die Teilnehmenden viele Gemeinsamkeiten deutlich und auch mal herzlich gelacht. Auf die Frage, wie sie auf den Einladungsbrief reagiert hätten, antworteten viele, sie seien sehr überrascht, aber auch neugierig gewesen. Manche haben erst einmal nachgeforscht, ob das denn seriös sei. Andere berichteten von Skepsis und dass der Brief erst einmal im Müll gelandet sei, aber wenn schon so viel Aufwand betrieben würde, Erinnerungsbriefe geschickt werden und Leute sogar nach Hause kämen, “na, dann muss ich mir das wohl mal anschauen.” Ein paar der Jugendlichen wurden von ihren Eltern ermutigt: “Meine Mutter meinte zu mir: ‘So einfach wirst du in deinem Leben nie wieder 100€ verdienen!’”
Wie stehe ich zum Bundestag?
In der ersten Kleingruppen-Phase sprachen die Teilnehmenden über ihre persönliche Beziehung zum Bundestag und der Bundespolitik. Viele waren dankbar, in einem demokratischen Staat mit einem gewählten Parlament zu leben, in dem unterschiedliche Menschen repräsentiert sind und frei gesprochen werden kann.
Zugleich wurde deutlich, wo es noch Verbesserungspotenzial gibt. Unverständnis gab es zum Beispiel in Bezug auf den rauen Umgangston im Parlament, scheinbar gelangweilt am Handy scrollende Politiker:innen und Bilder von leeren Rängen im Plenum. Viele sahen auch ein Kommunikationsproblem, das zu Vertrauensverlust und Ignoranz bei den Menschen beiträgt: Informationen zu Entscheidungsprozessen fehlen oder sind nicht verständlich aufbereitet und es besteht kein direkter Kontakt zwischen Abgeordneten und Menschen ohne die Medien als Mittler. Gerade junge Menschen würden nicht genug angesprochen.
Ein weiteres Stichwort war die Distanz zwischen Politik und Bürger:innen: Vielen war nicht klar, wie sie über Wahlen hinaus Einfluss auf Entscheidungen nehmen können. Manche fanden, dass bestimmte Gruppen zu wenig gehört werden und es in der Politik zu wenig Vielfalt gibt. Weitere Kritikpunkte waren mangelnde Transparenz, zum Beispiel in Bezug auf die Vergabe von Ministerien oder Lobbyismus, fehlende Haftung von Politiker:innen für Fehlentscheidungen, Privilegien von Abgeordneten sowie die hohe Zahl der Abgeordneten und die dadurch entstehenden Kosten.
Auf dem Weg zur Vision
Mit diesen Eindrücken ging es zurück ins Plenum. Hier sollten die Teilnehmenden nun Schlagworte nennen, wie sie sich eine bessere Beziehung zwischen Menschen und Politik vorstellen. Dabei bildeten sich fünf Schwerpunkte heraus, zu denen die Teilnehmenden jeweils eine konkrete Vision entwickeln wollten: Transparenz und Haftung, Zusammenarbeit zwischen Politik und Menschen, Nähe und Kommunikation zwischen Abgeordneten und Menschen, Zugänglichkeit der Politik für Jugendliche sowie politische Innovationen.
Diese Visionen wurden nach der Mittagspause mit Bundestagsführung, Blick auf die Kuppel von der Dachterrasse inklusive, in moderierten Kleingruppen ausgearbeitet.
Themenideen für zukünftige Wahlkreistage
Am Nachmittag stand vor dem Austausch mit Bundestagsmitglied Canan Bayram noch ein weiterer Programmpunkt an: Die Ideensammlung für Themen für die kommenden Wahlkreistage, die in allen sechs Wahlkreisen des Projekts stattfindet. Aus dem Pool der Vorschläge werden die Themen für die Wahlkreistage in der zweiten und dritten Projektphase ausgewählt. Schon in der Eingangsrunde hatten manche Teilnehmende angemerkt, dass sie sich auch gerne mit einer konkreten politischen Frage beschäftigt hätten. Nun hatten sie zumindest die Möglichkeit, die Themen zu nennen, die in ihren Augen drängend sind und gut in einem Wahlkreistag diskutiert werden können. Zu jedem Vorschlag konnten die Teilnehmenden mit einer kleinen Wahlkreisfigur den Grad ihrer Zustimmung auf einer hölzernen Zielscheibe ausdrücken: Je weiter im Inneren der Zielscheibe die Figur, desto größer die Zustimmung. Die Themen mit der meisten Zustimmung waren Klimaschutz, Pflegereform, Wohnen sowie Migration und Fachkräftemangel.
Austausch mit Canan Bayram (Mitglied des Bundestags)
Um 15 Uhr kam Canan Bayram (Bündnis 90/Die Grünen), die direkt gewählte Abgeordnete des Wahlkreises, für eine Gesprächsrunde dazu. Leider konnten die beiden anderen Abgeordneten des Wahlkreises, Cansel Kiziltepe (SPD) und Pascal Meiser (DIE LINKE) aufgrund paralleler Termine nicht dabei sein, freuen sich aber auf den Austausch an den zukünftigen Wahlkreistagen und im Wahlkreisrat. Die Visionen der Kleingruppen wurden im Plenum vorgestellt und Canan Bayram um ihre Einschätzung dazu gebeten.
In der Gruppe rund um die Vision “Jugendliche fühlen sich involviert & repräsentiert” entstanden Vorschläge zu jugendgerechter Social-Media-Kommunikation des Bundestags, zu alltagsnahem Politikunterricht und zu Schulbefreiungen für die Teilnahme an Demonstrationen. Außerdem gab es den Wunsch nach einem Wahlrecht ab 14 Jahren auf allen politischen Ebenen. Hier sei es vor allem die Bildung, die den Unterschied mache, wie gut Jugendliche auf die Wahlen vorbereitet sind – und das betreffe im Grunde alle Altersgruppen.
In der Vision “Transparente Bürgervertretung” wurde ein Kulturwandel von der Hinterzimmerpolitik weg und hin zur Offenheit gewünscht. Um dies zu erreichen, wurde unter anderem vorgeschlagen, eine Pflicht für Abgeordnete einzuführen, ihre Kontakte und Treffen öffentlich zu machen. Sie sollten außerdem verpflichtend Sprechstundentermine zur Verfügung stellen, für die sich alle eintragen können, damit nicht nur Lobbyvertreter:innen Zugang haben. Auch ein Verbot von Bargeld bei geschäftlichen Transaktionen wurde als Maßnahme zur Korruptionsbekämpfung angeregt.
Die Visionsgruppe “Echte Nähe: Probleme – Prioritäten – Interesse – Lösungen” beschäftigte sich mit der Frage, inwiefern Privilegien der Abgeordneten dazu führen, dass die drängenden alltäglichen Probleme unsichtbar werden. Durch verschiedene Maßnahmen sollen diese Probleme in der Politik wieder präsenter und Prioritäten dadurch anders gesetzt werden. Das wiederum stärke das Interesse und Engagement der Menschen, wodurch kreative Lösungswege gefunden werden können. Solche Maßnahmen waren z.B. eine verpflichtende gemeinnützige Tätigkeit der Abgeordneten ohne begleitende Öffentlichkeitsarbeit. Ein weiterer Vorschlag war eine interaktive App, in der die Menschen den Politiker:innen Fragen über deren Alltag und Privilegien-Nutzung stellen können. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit zur Überprüfung und ggf. Abschaffung von Privilegien wie dem Fahrdienst.
Ein weiterer Vorschlag, der zusätzlich zu der Vision erarbeitet wurde, war, dass Abgeordnete nach einer Wiederwahl verpflichtend sechs Monate einen sozialen Dienst leisten müssen. Ähnlich wie ein freiwilliges soziales Jahr sollen die Abgeordneten dadurch Teil der verschiedenen Alltagsrealitäten wie z.B. von Pflegekräften werden. So würden eine andere Nähe und das Gefühl einer tatsächlichen Repräsentation entstehen.
In der Vision “Der Mensch im Fokus” ging es um verschiedene Wege, wie das Wohl des Menschen stärker in den Mittelpunkt politischer Entscheidungen rücken kann. Vorgeschlagen wurde unter anderem, mehr politische Experimente zu wagen, mit Testphasen für bestimmte Maßnahmen wie ein bedingungsloses Grundeinkommen. Außerdem bestand der Wunsch, Volksentscheide auf Bundesebene einzuführen und sicherzustellen, dass Betroffene von politischen Entscheidungen auch im Prozess Gehör finden.
Die Gruppe zur Vision “Zusammenarbeit” beschäftigte sich mit der Frage, wie eine direkte und regelmäßige Zusammenarbeit zwischen Bevölkerung und Politik ermöglicht werden kann. Dafür wurden regelmäßige Workshops für Austausch in ganz Deutschland und Befragungen begleitend zu Parlamentsbeschlüssen vorgeschlagen, bei denen die Menschen über Pro- und Contra-Argumente informiert würden.
Der Tag ging mit einer Abschlussrunde zu Ende. Canan Bayram freute sich über die vielen Ideen und Impulse aus den Visionen, die sie zu einem Großteil auch inhaltlich teilte. Viele der Teilnehmenden beschrieben den Tag – trotz der zunehmenden Hitze im Raum, denn auch im Bundestag fällt mal die Lüftung aus – als eine echte Bereicherung und möchten ihn als Anstoß nehmen, sich auch in Zukunft mehr mit Politik zu beschäftigen. So haben sich fast alle Teilnehmenden dafür entschieden, im Wahlkreisrat weiterzumachen.
Einige äußerten die Erwartung, dass die Ergebnisse in der Politik ankommen, und zu erfahren, wie damit weitergearbeitet wird. Manche waren überrascht, wie einig man sich gewesen sei und hätten sich noch kontroversere Diskussionen, oder auch spezifischere Themen und mehr Zeit gewünscht. Viele Teilnehmende fanden besonders die wertschätzende Atmosphäre beeindruckend. Ein Teilnehmer verabschiedete sich gar mit den Worten: “Am liebsten würde ich nächsten Samstag direkt wiederkommen!”