“Man sagt ja immer, die Gesellschaft sei gespalten. Hier habe ich gesehen, dass das gar nicht unbedingt stimmt.“
Ein Bericht über den Wahlkreistag in Erfurt – Weimar – Weimarer Land II
Eindrücke vom Wahlkreistag
Der Wahlkreistag in Erfurt – Weimar – Weimarer Land II
Eine Woche nach dem Wahlkreistag in Hagen fuhren wir ins Herz Thüringens: Am 6. Mai 2023 fand der erste Wahlkreistag im Wahlkreis Erfurt – Weimar – Weimarer Land II statt. 20 Menschen zwischen 13 und 91 fanden sich bei schönster Frühlingssonne im Haus Dacheröden zusammen. Für drei Teilnehmende (aus Russland, der Ukraine und Spanien) wurde simultan übersetzt.
Neben einigen bekannten Gesichtern von Gesprächen an der Haustür reihten sich vertraute Stimmen von Telefonaten und noch Unbekannte in den Empfang ein. Alle erhielten zu Beginn das Begleitheft, eine Hallo Bundestag-Tasse und eine Wahlkreisfigur (eine Figur, die auf dem Umriss des Wahlkreises steht)
“Ich wollte nicht teilnehmen, aber dann stand jemand vor meiner Tür.”
Bereits die Vorstellungsrunde machte deutlich: Diese Gruppe könnte aus einem Bilderbuch-Bürgerinnenrat stammen. Sie spiegelte eine Vielfalt an Lebensrealitäten wider, die interessante Perspektiven und spannende Diskussionen versprach.
So waren bereits die Reaktionen auf den Einladungsbrief unterschiedlich: Während manche direkt auf den ersten Brief mit Neugierde reagierten, lasen andere den Brief mit Skepsis und befragten das Internet nach der Seriosität des Projekts. Manche warfen den ersten Brief direkt weg: „Ich dachte, es sei ein Fake!“ erklärte eine Teilnehmende. Manche hat dann der zweite Brief überzeugt, andere erst das persönliche Gespräch an der Haustür, wieder andere wurden von Freund:innen oder Kolleg:innen zur Teilnahme bewogen. Besonders die Jugendlichen freuten sich über die Möglichkeit, politisch aktiver zu werden, weil sie noch nicht wählen können.
Eins aber einte die Teilnehmenden: Sie waren überrascht, ausgelost worden zu sein und neugierig darauf, was am Wahlkreistag passieren würde.
Das Verhältnis zwischen Mensch und Bundestag heute
In der ersten Kleingruppenphase befragten wir die Teilnehmenden zu ihrem aktuellen Verhältnis zur Bundespolitik und zum Bundestag. Dabei sollten sie erst einmal fünf Minuten für sich überlegen und mindestens einen positiven und einen negativen Aspekt aufschreiben.
Als positiv wurde genannt, dass der Bundestag als Symbol der Demokratie eine sehr wichtige Institution darstelle. Viele Politiker:innen seien bemüht, etwas für Land und Leute zu tun, es gebe eine offene Gesprächskultur und freie, demokratische Wahlen. Auch dass Politiker:innen medial präsent sind, fanden die Teilnehmenden gut. Dabei unterscheiden sich jedoch die Informationsquellen über die Arbeit der Abgeordneten: Einige Teilnehmende informieren sich über soziale Medien, andere über öffentliche Medien, welche wiederum andere ablehnen und sich „alternativer Internetquellen“ bedienen.
Gleichzeitig wurde Frustration über das Verhältnis der Teilnehmenden zu Bundestagsabgeordneten deutlich: „Das ist nicht mein Bundestag“ empfindet ein Teilnehmender. Die Politik würde zu viel für die Wirtschaft und zu wenig für die Menschen tun. Korruption und Lobbyismus fielen hier als Stichworte. Auch der Umgang zwischen Politiker:innen erntete viel Kritik. Abgeordnete wären kaum bereit, Kompromisse zu schließen. Darüber hinaus existieren harte und undurchlässige Partei- sowie Regierungs- und Oppositionslinien, die scheinbar stärkeren Einfluss auf Entscheidungen haben als die sinnvolle Überlegung der Abgeordneten. Zudem häufen sich Skandale über Affären und das Ziel, gute Politik zu machen, wird von dem Kampf um Wiederwahl überschattet.
Generell mangele es an Transparenz über Entscheidungsprozesse und auch an konstruktiver Berichterstattung. „Es ist immer viel Gerede um nichts und am nächsten Tag ist es bereits Schnee von gestern.“ Auch sei die Institution träge durch die ganze Bürokratie, die Fehlerkultur sei unklar und inkonsequent. Außerdem sei der Bundestag nicht vielfältig genug, sondern elitär. Das schlage sich auch in der verwendeten Sprache nieder, der nicht alle folgen könnten. Es fehle an Beteiligungsmöglichkeiten außerhalb der Wahl.
In einer Kleingruppe, in der das Alter mit 15 bis 91 eine besonders große Spanne umfasste, veränderte die Perspektive der 91-Jährigen die Sichtweise der anderen deutlich. Die Teilnehmerin berichtete von ihrem politischen Erwachsenwerden in der DDR, in der es zwar Wahlen gab, diese aber nicht wirklich frei waren. Während anfangs alle vor allem negative Aspekte nannten, waren sie sich nach dem Bericht einig, dass es oft als zu selbstverständlich angesehen wird, dass der Bundestag in freien und geheimen Wahlen zusammengestellt wird.
Wie kann es anders aussehen?
Im Anschluss wagten wir den Blick in die Zukunft: Wie sähe ein ideales Verhältnis von Bundespolitik(er:innen) und den Menschen im Wahlkreis aus? Was wäre anders? Wie würden sich Politiker:innen verhalten, wie würden Menschen sich beteiligen, wenn ein Grundvertrauen herrscht? Hierzu luden wir die Menschen ein, sich zunächst allein, dann gemeinsam mit Sitznachbar:innen Gedanken zu machen.
Die genannten Visionen wurden geclustert. So entstanden fünf Themenschwerpunkte für die Visions-Gruppen am Nachmittag.
Themensammlung für die nächsten Wahlkreistage
Vor dem Mittagessen wurden Themen für die folgenden Wahlkreistage in Phase zwei und drei des Projekts gesammelt. Diese Umfrage findet in allen sechs Wahlkreisen statt, damit sich die Themensetzung an den Wünschen der Menschen orientiert.
Nachdem die Themen gesammelt wurden, konnten die Teilnehmenden ihre Wahlkreisfigur nutzen, um ihre Zustimmung, Neutralität oder Ablehnung zu signalisieren. Hierbei wird deutlich gemacht, dass es nicht darum geht, ob die Menschen das jeweilige Thema wichtig finden, sondern ob sie finden, dass es sich für einen Wahlkreistag eignet.
Themen, die genannt wurden, waren nach Zustimmung sortiert: Kommunikation, Bildung, soziale Gerechtigkeit, das Gesundheitssystem, Bürokratie-Abbau Sanktionierung, Digitalisierung und Netzausbau, schnellere Gesetzgebung sowie Energiepolitik.
Beim Mittagessen kamen die Teilnehmenden ins Gespräch und konnten die Ausstellung über das Haus Dacheröden besuchen.
Ausarbeitung und Diskussion der Visionen
Nach dem Mittagessen feilten die Teilnehmenden in selbstgewählten Kleingruppen an ihren Visionen, die sie im Anschluss den Abgeordneten vorstellten. Vor Ort waren Carsten Schneider (SPD) und Antje Tillmann (CDU), Susanne Hennig-Wellsow (DIE LINKE) war per Zoom dazugeschaltet. Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) meldete sich per Videobotschaft, aufgrund terminlicher Überschneidungen konnte sie leider nicht dabei sein. Folgende Visionen wurden entwickelt:
1. Nachhaltiges Regieren
Hier wurde insbesondere über die Fehlerkultur gesprochen. Die Teilnehmenden wünschten sich, dass Abgeordnete zur Rechenschaft gezogen werden und sie bei groben Fehltritten zurücktreten. Außerdem sei Politik ein Full-Time Job, verlange daher eine gewisse Fachkompetenz und ließe keine Nebentätigkeiten zu. Darüber hinaus wünschten sich die Teilnehmenden, dass der Fraktionszwang gelockert würde.
Die Abgeordneten stimmten der grundsätzlichen Richtung der Vision zu, brachten aber auch andere Gesichtspunkte ein: Es komme auf den Fehler drauf an. Würden alle, sobald sie einen Fehler machen, zurücktreten, würde das einen problematischen Umgang mit Fehlern vorleben. Eine notwendige Fachkompetenz von Politiker:innen würde darüber hinaus die Vielfalt im Bundestag mindern, die eigentlich sehr hervorzuheben sei. Den Fraktionszwang finden die Abgeordneten im Grundsatz gut; er ließe aber, anders als in der Wahrnehmung der Teilnehmenden, immer auch Möglichkeiten der eigenen Positionierung zu.
2. Selbstbestimmtes Aufwachsen
Die zweite Gruppe forderte insbesondere Unterstützung für Kinder und Jugendliche, damit sie zu selbstständigen Menschen heranwachsen können. Bildung sollte deshalb stärker bezuschusst und auf Bundesebene thematisiert werden. Anträge sollten schneller genehmigt, Gelder einfacher abrufbar sein. Außerdem sollte verstärkt Praxisbezug in die schulische Laufbahn einbezogen werden.
Auch hier stimmten die Abgeordneten dem Wunsch der Teilnehmenden nach besserer Bildung zu. Dass Antragsprozesse für Hilfeleistungen schneller und Zugangsvoraussetzungen gerechter sein müssten, sei für sie ebenso ein Anliegen. Carsten Schneider betonte jedoch die Gefahr, dass durch die Zuständigkeit des Bundes für Bildung regionale Unterschiede missachtet würden. Vielmehr sollte sichergestellt werden, dass die Abschlüsse vergleichbar sind.
3. Bürgernähe – sowohl von oben als auch von unten
Bürgernähe sei eine Verantwortung von unten und oben, so die dritte Gruppe. Politik müsse verständlich sein, damit sich Bürger:innen politisch engagieren. Daher schlug die Gruppe vor, dass es gut aufbereitete Zusammenfassungen der Entscheidungsprozesse geben solle (die nicht unbedingt vom Bundestag selbst erstellt werden müssten). Außerdem gab es die konkrete Idee des „Vorschlags der Woche“: Ein Forum sammelt Vorschläge von Bürger:innen, arbeitet die Ideen weiter aus und gibt sie als Feedback zurück an die Bundespolitik.
Auch diese Vision erntete die Zustimmung der Abgeordneten. Gleichzeitig betonte insbesondere Antje Tillmann ihre schon jetzt sehr großen Bemühungen in der Wahlkreisarbeit. Auch Bürger:innen trügen die Verantwortung, sich an die Politiker:innen zu wenden. Zu vielen Veranstaltungen kämen immer dieselben Menschen und dennoch beschwerten sich viele andere. Außerdem verwiesen die Abgeordneten auf die vorhandenen Informationen auf der Bundestags-Website und ihre Bemühungen um Transparenz.
4. Interessensvertretung des Volkes
Teilnehmende dieser Gruppe wünschten sich mehr Formate, die Bürger:innen in politische Prozesse einbinden, zum Beispiel Umfragen oder Volksentscheide zu grundsätzlichen Fragen (auf Bundesebene). Außerdem sollte das Abstimmungs- und Argumentationsverhalten der Abgeordneten inhaltlich auf Fakten geprüft werden.
Die Abgeordneten zeigten sich überzeugt, dass so eine Veranstaltung wie der Wahlkreistag zu einer vielfältigen Beteiligungslandschaft beitragen kann. Gleichzeitig warfen sie erneut die Frage auf, was die Menschen daran hindert, bestehende Beteiligungsformate – gerade im Wahlkreis – zu nutzen, in die bereits sehr viel Energie der Abgeordneten fließt.
5. Chancengleichheit
Hier stand die Frage nach dem Zugang zur Politik im Zentrum. Anträge seien zum Beispiel nicht in einer Sprache verfasst, die die meisten Betroffenen sprechen. Einfache Sprache könnte hier helfen. Außerdem sollten Betroffene stärker als Expert:innen einbezogen werden, bspw. bei Diskussionen über alltagsnahe Themen, sowie als Testgruppe für spezifische Antragsprozesse. Außerdem wurde die Ganztagsschule für alle gefordert. Auch der fehlende Zugang zu Kultur wurde bemängelt: Barrierefreiheit sollte in kulturellen Institutionen umgesetzt werden sowie Tickets für alle erschwinglich sein.
Die Idee, Betroffene stärker einzubeziehen, schätzten die Abgeordneten und verwiesen auf bereits bestehende Arbeit von Beiräten. Susanne Hennig-Wellsow machte deutlich, dass gerade die Zugangsgerechtigkeit ihr ein zentrales Anliegen sei.
Das sagen die Menschen am Ende des Tages
Bei der Abschlussrunde luden wir Feedback der Menschen ein, um für die weiteren Wahlkreistage zu lernen. Alle waren sehr froh, dabei gewesen zu sein. Besonders die konstruktiven Diskussionen in Gruppen, Vielfalt an Stimmen und die Teilnahme der Abgeordneten haben überzeugt.
Viele Teilnehmende und auch die Abgeordneten waren überrascht, dass trotz der großen Diversität bei wichtigen Fragen doch Einigkeit herrschte. “Auf Facebook denkt man, die anderen sind alle nur noch irre und hier sieht man in Präsenz, dass wir alle zusammengehören.” So etwas müsste es öfter geben! Trotzdem blieben manche Teilnehmende skeptisch, ob sich durch dieses Format wirklich etwas in der Politik ändert. Die Organisation wurde mehrfach gelobt – und wenn das Fehlen der Bockwurst in der Erbsensuppe der größte Kritikpunkt am Tag ist, dann wissen wir, dass wir schon vieles richtig gemacht haben.
Am Ende der Veranstaltung konnten die Teilnehmenden mit den Abgeordneten ins Gespräch kommen. Ein Journalist von Table.Media erfasste weitere Stimmen der Teilnehmenden zum Projekt.
Die Mehrheit meldete sich für die Weiterarbeit im Wahlkreisrat an. Der Wahlkreistag in Erfurt – Weimar – Weimarer Land II brachte verschiedene Menschen zusammen. Am Anfang einander noch unbekannt und verunsichert, bildeten die Teilnehmenden für den Rückweg Fahrgemeinschaften und tauschten Nummern aus, um miteinander in Kontakt zu bleiben.
Außerdem stand schon jetzt der erste Termin für den Wahlkreisrat fest: Am 31. Mai 2023 werden wir Katrin Göring-Eckardt treffen, um auch mit ihr die Visionen zu besprechen. Sie konnte am Wahlkreistag nicht dabei sein und hatte daher schon im Vorhinein um ein Nachhol-Treffen mit uns vereinbart.
Die Dokumentation fasst den Prozess und die Ergebnisse des Wahlkreistages zusammen. Sie steht hier zum Download bereit: